Thomas Neusiedler, CEO Helvetia, im Interview: Wie Digitalisierung und Automatisation die Branche verändern wird

Veränderte Erwartungshaltungen von Versicherungsnehmern sowie Digitalisierung und Automatisation prägen die Branche. Im Interview erzählt Thomas Neusiedler, CEO Helvetia Österreich, wie er die (Weiter-)Entwicklung der Branche sieht und gibt Einblicke in seinen Werdegang und seine Ziele als CEO.

Wie haben Sie die Veränderung und die Entwicklung der Versicherungsbranche in den letzten 15 Jahren erlebt?

Thomas Neusiedler: Da möchte ich ein wenig weiter ausholen: Die Helvetia ist 160 Jahre alt und hat Weltkriege und Umstellungen von Regierungsformen überlebt. Da mögen 15 Jahre sehr kurz wirken. Allerdings sind wir mittendrin in einer deutlichen Umstellung des Berufslebens in Richtung Automatisierung und Digitalisierung, was man in den letzten zwei bis drei Jahren extrem gemerkt hat. Man sieht nun einen deutlich stärkeren Regulierungsansatz in den Versiche-rungen. Weiters hat sich die Ergebnissituation im Bereich Leben deutlich verändert, dies betrifft auch mittelbar den Nicht-Lebensbereich. Natürlich hat sich auch der Druck, Geld zu verdienen, ausgeprägt. So ist eine Professionalisierung im Nicht-Lebensbereich eingetreten, was im Endeffekt dazu führt, dass man schaut, wo man schlank wird und schlank bleiben kann.

Welche Anforderungen hat der Kunde heute im Vergleich zu vor 15 Jahren und inwieweit kann die Helvetia das bereits erfüllen?

Ich persönlich denke, dass sich die Kundenstruktur nicht so drastisch verändert hat. Im Gegensatz dazu hat sich das Vermittlerverhalten stark gewandelt. Hinzu kommen die neuen Anforderungen an Online-Versicherungen, die mich an den sprichwörtlichen Dornröschenschlaf erinnern: Innerhalb der Branche wird das The-ma heiß diskutiert, aber so richtig große Marktanteile haben wir online nicht – weder bei uns im Haus, noch am Markt. Aber in Wahrheit wissen wir nicht, was das Dornröschen hinter der Dornenhecke gemacht hat. Hat es wirklich geschlafen oder doch gearbeitet, bis es sich entschieden hat, wieder zu erscheinen? Ich glaube, eine zeitgemäße Agilität ist wichtig, sodass man als Versicherung wendig bleibt und schnell neue Produkte online bewirtschaften kann. Wartezeiten von bis zu zwölf Monaten für völlig neue Versicherungsprodukte sind existenzbedrohend, wenn Online-Szenarien von heute auf morgen umgesetzt werden.

In Österreich haben Versicherer gegenüber Deutschland überhaupt keine Marktanteile online. Ist das auch ein Servicethema?

Die Jungen und deren attestierten Wunsch nach Online-Produkten haben wir im Blick, allerdings fallen sie noch kaum ins Gewicht. Der Rolle des klassischen Versicherungsvermittlers bleibt unangefochten wichtig. Häufig wird das erste Auto von Eltern oder Großeltern verschenkt, die gleichzeitig die Versicherung für sie abschließen. Damit ist die Kaufentscheidung der ersten Stunde also nicht bei den jungen Leuten selbst, sondern bei den Vorgenerationen. Wir bemerken allerdings, dass es vor allem bei den Jungen eine andere Erwartungshaltung gibt. Wenn ich heute eine E-Mail schreibe, so erwarte ich mir, dass ich in 48 Stunden eine Antwort bekomme – zum Beispiel im Schadenfall, um einen Besichtigungstermin auszumachen. Vor 15 Jahren oder noch früher, als ich das erste Mal in die Versicherungswelt hineingeschnuppert habe, da war das alles noch ganz anders. Die Erwartungshaltung gegenüber der Geschwindigkeit ist demnach eine ganz an-dere, und da sind wir sicher noch nicht am Ende angelangt.

Wenn wir an die zukünftige Strategie der Helvetia denken, inwieweit werden da künstliche Intelligenz oder neue Softwarelösungen in der Schadenbegutachtung eine Rolle spielen, um für den Kunden schneller Lösungen zu erzielen?

Wir sind sehr stolz darauf, dass wir innerhalb von 48 Stunden ungefähr 80% unserer Schäden erstbearbeiten können. Besonders spannend ist, dass wir mit Me-thoden aus dem Bereich Robotics experimentieren und Sparten, die wir schnell abwickeln können, – zum Beispiel Glasbruchschäden oder Beratungsrechtsschutz – mit einer Form von Automatisierung zu bearbeiten. Das funktioniert überall dort, wo die Schadensstrukturen sehr homogen sind. Ich würde daher eher von einer Automatisierungsstrategie reden, als von einer Künstliche-Intelligenz-Lösung, weil ich glaube, dass das heute noch sehr vermischt wird. Der Schadensprozess als solcher ist für uns ein gewaltiger Hebel, bei dem wir sagen, dass wir mit Automatisierung und mit intelligenten technischen Lösungen schlank bleiben. Ich möchte absichtlich nicht sagen „schlank werden“, denn das ist in unserem Haus definitiv mit unseren Mitarbeitern ausgesprochen: Wir wollen mit der bestehenden Belegschaft die Wachstumsszenarien für die nächsten fünf Jahre entwickeln und realisieren.

Wie wird sich die Arbeitsweise der Mitarbeitenden ändern, und wie bereitet man diese darauf vor?

Entgegen der öffentlichen Darstellung muss man den Menschen gegenüber ehrlich sein, dass es sehr wohl einen gewissen Druck gibt. Wer gewillt ist, sich weiterzuentwickeln, braucht allerdings keine Angst zu haben! Die Herausforderung, die wir haben, ist unsere Mitarbeitenden bei diesen Schritten zu begleiten. Das machen wir gerne und ich sehe unser Bekenntnis dazu als wichtigen Punkt für eine gelungene Unternehmenskultur, die Mitarbeitende wiederum zu Höchstleis-tungen motivieren kann.

Ist die Helvetia-Akademie ein Kanal, der diesen Prozess unterstützen soll?

Die Helvetia-Akademie richten wir sehr stark in die Richtung des Außendienstes. Die operativen Leute werden am Arbeitsplatz versorgt. Die Herausforderung, die ich aber sehe, ist, dass wir bewusst ein dezentrales System umsetzen. Damit unterscheiden wir uns stark von den Branchengrößen, die über die letzten 10 Jahre stark auf Zentralisierung gesetzt haben. Hier spielt uns auch der Zeitgeist in die Karten: Mittlerweile gibt es so viele technologische Möglichkeiten, dass es vollkommen egal ist, ob unsere Mitarbeitenden in Wien, Graz oder woanders tätig sind. Die Arbeit wollen wir zu den Menschen bringen, und nicht umgekehrt. Da brauchen wir aber auch Antworten, wie wir qualifizieren und wie wir unsere Qualität auch bei räumlicher Distanz halten können.

Studien beleget, dass der Versicherungsnehmer immer autarker werden möchte. Welche Rolle spielt das Thema EDV bzw. IT in der Helvetia, um das zu unterstützen?

EDV und Versicherungen sind ein leidiges Thema. Die zusätzliche Ministerin von Digitalisierung hat vor geraumer Zeit gesagt, dass von österreichischen Banken nicht viel außer EDV überbleiben wird. Ich glaube, man könnte diese Aussage auch auf Versicherungen übertragen. Von diesem Standpunkt ausgehend muss man bejahen, dass das EDV-Thema sehr zentral sein wird. Dem muss man sich stellen. Versicherungen wird es meiner Meinung nach auch in 50 Jahren noch geben, aber die Spielregeln werden sich auf jeden Fall geändert haben. Der technische Eingangsweg des Kunden zum Versicherer wird die Visitenkarte sein. Es geht um Lösungen, die beim Kunden präsent sind.

Wie sieht ihre Strategie in Bezug auf die Einbindung von InsurTechs zur Bereitstellung von Services aus?

Also sehr direkt gesagt, habe ich noch sehr wenig InsurTechs gesehen – vor allem in Österreich nicht, – die mich so begeistert haben, dass ich als Versicherer beeindruckt bin. Ich glaube, dass Insur-Techs und Startups eine gute Lösung sein können und auch sein werden, weil sie zum Beispiel viel mehr Agilität mitbrin-gen können als Versicherer mit 3.000 Angestellten. InsurTechs können auf eine gewisse Art und Weise zu Partnern von Versicherungen werden.

Wie haben sich die Anforderungen an die Versicherungsdienstleister in den letzten Jahren verändert?

Ich glaube, dass es auf Dienstleister-Seite eine Professionalisierung gab. Vor 15 bis 20 Jahren gab es vorwiegend Ein- oder Zweimannbetriebe. Aktuell werden die Mittleren und Großen eher stärker, und die Kleinen werden wahrscheinlich tendenziell verschwinden. Der Regulator spielt mit. Die Diskussionen, was anzeigepflichtiges Outsourcing ist, sind in den letzten 15 Jahren in der Versicherung eindeutig schärfer geworden. Da glaube ich, dass der Druck auch bei den Versicherungen da ist.

War es schon als Kind ihr Ziel CEO einer Versicherung zu sein oder war die Entwicklung dorthin eher zufällig?

Mein Vater war über vierzig Jahre im Versicherungsbereich tätig – so hatte ich fast keine andere Chance (lacht). In Wahrheit war der Katalysator der, dass ich dadurch nie Berührungsängste zur Branche selbst hatte. Der Weg in die Versicherung hinein war also ein bisschen vorherbestimmt, aber, dass es sich so entwickelt hat und dass ich nun Vorstandsvorsitzender von der Helvetia bin, das konnte ich sowieso nicht planen. Du kannst meiner Meinung nach nur jeden Tag ins Büro ge-hen mit der Einstellung, dass du das, was du machst, gut machst. Kolleginnen und Kollegen in der Branche, die mich beeindrucken, sind auch die, die wirklich im Thema ‚drinnen‘ sind, und nicht die, die einem gewissen Ideal hinterherjagen. Diese Authentizität ist auch, was Sie über viele Jahre der Kooperationspartnerschaft mit faircheck auszeichnet… Ich denke, es ist wechselseitig, dass wir einander vertrauen und wissen, was wir aneinander haben.

Was möchten Sie eines Tages hinterlassen, wenn Sie die jetzige Position als CEO verlassen?

Ich finde, man soll der Generation, die nach einem kommt, immer mehr mitge-ben, als man von der Generation davor übernommen hat. Was ich damit sagen will, ist, wenn ich heute einen Nicht-Lebensbestand übernehme, der ca. bei 220 Mio. Euro liegt, dann ist meine Ambition, dass die Helvetia irgendwann einmal auf die 500 Mio. Euro zusteuert, und das durch eigene Kraft. Die Vision ist also ein größeres, gestärktes und zukunftstaugliches Unternehmen weiterzugeben, bevor ich zum größten österreichischen Arbeitgeber, der PVA, wechsle.

Vielen Dank für das Interview und für Ihre Zeit. Alles Gute für die Zukunft.

Thomas Neusiedler, CEO Helvetia Thomas Neusiedler studierte Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Spezielle Versicherungswirtschaft, bevor er in der Versicherungsbranche tätig wurde. Seit 2012 war Thomas Neusiedler Vorstand für das Ressort Schaden-Unfall für Helvetia Österreich und übernahm mit 1. Jänner 2020 die Leitung von Helvetia Österreich.